Worum es geht
„Achte, wo du hintrittst !
Geh so, dass du mit deinen Sohlen nicht
Die Köpf´ zerdrückst der unglücksel´gen Menschen!“
Dante Alighierie, „Die Göttliche Komödie“, „Die Hölle“, XXXII. Gesang
Max Horkheimer und Theodor Adorno fragten 1947 in ihrer Schrift „Dialektik der Aufklärung“, warum die Menschheit zunehmend in Barbarei treibt, obwohl alle geistesgeschichtlichen, sozialen, technischen Bedingungen und Reichtum für eine emanzipierte humane Gesellschaft vorhanden sind.
Wir wissen alles, – über Armut und Reichtum in der Welt.
Wir wollen aber nicht, – diese abschaffen.
Was ist Wissen?: etymologisch stammt der Begriff von und bedeutet „erblicken, sehen, gesehen haben, ich habe gesehen, erkennen, ich weiss, bewusst, Wissen, bis zu weise, Gestalt, Urbild und Gewissen.
Der Begriff Gewissen stammt von griechisch „syneidêsis“, ins lateinische Übertragen „conscientia“, und bedeutet ein verstärktes Wissen und Bewusstsein, nämlich Mit-Wissen.
Die antiken Griechen lehrten, dass es für jedes sittlich schlechte Verhalten gegenüber Göttern und Menschen einen „Zeugen“, den inneren Mitwisser gäbe. Und Sinn dieses Wissens, Bewusstseins, Mitwissens ist Verantwortung.
Am Anfang war Angst, Armut Arbeit. Armut ist so alt wie die Menschheit. Armut, Hunger und Mangel sind geblieben, so alt wie die Menschheit geworden ist. Im Laufe der Geschichte hat Armut verschiedene Qualitäten und Quantitäten entwickelt: naturbedingte Armut, individuelle Armut, Gruppenarmut, Massenarmut, Armut durch Naturkatastrophen, Armut durch Kriege, Armut durch Mein und Dein, durch wirtschaftliche, politische, bürokratische Massnahmen.
Und Hunger nach besserem Leben offenbart sich von Anbeginn als das allgemeinmenschliche Selbstbewegungseine, welches das Wesen, das Erste, die Ursache von allem ist, um im Sinne der antiken Philosophen zu formulieren. Der Mensch ist an sich ein Mangelwesen. Was das Tier direkt bewältigt, muss der Mensch umständlich über Umwege im Laufe von Jahrtausende über geistige, seelische, künstlerische, kulturelle, wissenschaftliche und technische Entwicklungen vollbringen. Dennoch ist Armut geblieben.
Am Anfang war der Mangel, die Armut und der Überlebenskampf der Steinzeitmenschen, und ab etwa vor 150.000 Jahren schlug sich der Homo Sapiens durch. Nach der Neolithischen Revolution zwischen 20.000 und 3.000 v. u. Z., je nach Region, arbeitete der Mensch am besseren Leben, wenn er nicht als Sklave, römischer Proletari, später Frohnarbeiter, als Leibeigener, ab der Industriellen Revolution als Proletarier verdingt war, oder er gar ohne Arbeit war, als Bettler vegetierte, und gleichzeitig arbeitete er an seinem Untergang.
Und ab dem 19., 20. und im 21. Jahrhundert arbeitete und arbeitet der industrielle Mensch am Überfluss und begehrt diesen als Substitut und Symbol für seine natürlichen Bedürfnisse, wenn er nicht als Leiharbeiter, Eineurojobber, Geringverdiener oder gar als Arbeitsloser, Sozialhilfeempfänger, Hartz-4-Empfänger oder als Bettler ums Überleben kämpft.
Der industrielle Globalismus hat zu mehr Armut und Hunger geführt, sowohl in den so genannten Entwicklungsländern wie in den reichen Nationen, obwohl die Kapazitäten der Industrienationen alle Menschen und die doppelte Anzahl von Menschen ernähren, medizinisch versorgen, kleiden und mit Behausung versehen und bilden könnte.
Der Begriff Pauperismus, lateinisch pauper, arm, englisch pauperism, entstand zur Zeit der frühen Industrialisierung im 19. Jahrhundert, als sich verheerende Massenarmut ausbreitete. Lohnarbeiter und Lohnarbeiterinnen, Kinder, Handwerker konnten kaum noch für ihren Lebensunterhalt sorgen, trotz zeitaufwendigem und hartem Arbeitseinsatz.
Das 19. Jahrhundert war eine Zeit von gesellschaftlichen, ökonomischen, geistigen und kulturellen Krisen, wegen des Absinkens der alten Zeit und des Baus einer neuen Zeit, deren Architektur auch den Nationalismus verstärkte und die Weltkriege, Völkermorde und Diktaturen des 20. Jahrhunderts hervorbrachte.
So war 1848 auch das Jahr des Beginns von Auswanderungswellen in Europa in die USA. Sozial und gesellschaftlich unzufriedene, arme Bürger Deutschlands, hungernde Iren, arme Skandinavier, Russen, Italiener suchten in den USA ein besseres Leben. Für die europäische Gesellschaftsordnungen bedeutete die Abwanderung von Arbeitern, Arbeiterinnen, Hausfrauen, Hausmädchen und Handwerkern durchaus eine ökonomische und politische und auch eine kulturelle Bedrohung für Europa.
Heute wandern zunehmend Deutsche aus, und zunehmend wandern Menschen aus den ärmeren Nationen in Deutschland ein.
FOCUS Oktober 2008:
Armut und Einkommensungleichheit haben in Deutschland in den vergangenen Jahren wesentlich schneller zugenommen als in allen anderen OECD-Ländern. Von 2000 bis 2005 lebten 10,5 bis 11 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle, heißt es in einer am Dienstag in Paris vorgestellten Studie der Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD). Anfang der 90er Jahre war die Armutsquote in Deutschland noch rund ein Viertel geringer als im OECD-Mittel, inzwischen ist sie über den Durchschnitt der 30 Mitgliedsstaaten gestiegen.
Die Studie „Mehr Ungleichheit trotz Wachstum?“ belegt auch, dass die Einkommensunterschiede, die lange Zeit im OECD-Vergleich eher gering waren, fast das OECD-Niveau erreicht haben. Vor allem durch einen starken Anstieg der höheren Einkommen seit der Jahrtausendwende ist die Einkommensschere auseinandergeklafft. „Dabei ist anders als vielfach behauptet die Spreizung der Einkommensschere nicht hilfreich für Wachstum. Sie macht es für talentierte und hart arbeitende Menschen schwerer, den Lohn zu erhalten, den sie verdienen“, erklärte OECD-Generalsekretär Angel Gurría. Diese mangelnde soziale Mobilität beeinträchtige die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit insgesamt.
STERN Oktober 2008
Welternährungstag: Hunger in Deutschland
Mitlerweile kümmern sich in Deutschland 800 so genannte „Tafeln“ darum, Essen an bedürftige Menschen zu verteilen, mit Lebensmitteln aus Überproduktionen.
Wie alles anfing
„Es ist die uralte Frage der gerechten Verteilung zwischen Arm und Reich … wir sind auf dem Weg in eine Wolfsgesellschaft“,
Bischof Friedhelm Hengsbach, 2004
Am Anfang war Angst, Armut, Arbeit
Armut ist der Urzustand der Menschheit.
In der längsten Epoche der Menschengeschichte, der Steinzeit, von ca. 2,5 Millionen Jahre bis etwa 10.000 v. u. Z., lebten die Menschen ein Mangelleben in Armut, Hunger, Arbeit und in Ängsten, in Verhungerungsängsten, Ängsten vor Krankheiten und Tod, wovon sie nicht wussten, dass es Krankheit und Tod waren, sie kannten keinen Zusammenhang zwischen Sexualität/Fortpflanzung, Schwangerschaft und Geburt, und sie lebten in Ängsten vor den Himmelsgestirnen, den Hell- und Dunkelphasen, kannten keine Abstraktionen wie Tag und Nacht, hatte keine Begriffe davon, warum es Hell und Dunkel wurde, sie kannten nicht die Abstraktionen Schlaf und Wachzustand, sie kämpften im Wachzustand um ihr Überleben, ohne zu wissen, dass es ihr Leben war, und irgendwann schliefen sie einfach vor Erschöpfung ein, sie kannten noch keine Zeitbegriffe, hatten kein Bewusstsein von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und noch keine für die Jahreszeiten und die unterschiedlichen Wetterverhältnisse, sie hatten keine Begriffe davon, warum es mal kalt, mal warm war, die Abstraktionen Regen und Wind waren ihnen unbekannt, wie ebenfalls der Zusammenhang von Leben, Arbeit, Denken und Phantasieproduktion dieser Menschen drehte sich um den Überlebenskampf.
Der Zusammenhalt der Gruppen war durch die Verantwortung aller gewährleistet, teilen, gegenseitige Hilfe sicherte das Überleben der Gruppen.
Die demokratischer Gemeinschaften
Es war die Zeit demokratischer Gemeinschaften deren Regeln sich um die Frauen herum, die gute, Grosse-Mutter, Bona Dea orientierten. Mein und Dein war unbekannt. Heutige gängige Begriffe wir Privateigentum, Besitz, gar Besitz von Land, oder Begriffe wie Kapital oder Zins, Mehrwert waren undenkbar, existierten nicht im Bewusstsein der Menschen, die Bedürfnisse für diese Praktiken waren nicht vorhanden, weder als sehnsuchtsvolle Wünsche, noch als destruktive Affekte, wie Neid, Eifersucht, Gier, Geiz und Konkurrenz.
Ebenfalls existierte kein Begriff für das heutige Wort Ausbeutung, weil keine Ausbeutung praktiziert wurde, kein Bedürfnis bestand Flora und Fauna, Flüsse und Meere, Tiere und die Mitmenschen auszubeuten.
Die erste Art von Ausbeutung begann später damit, dass der Mann die Frau ausbeutete.
„Die Frau war es in den gynaikokratischen, den mutterrechtlichen Gesellschaften, die durch die Pflege der Leibesfrucht und der Kinder, früher als der Mann, ihre Sorge über die Grenzen des eigenen Ich hinweg auf andere Wesen erstreckte, und ihre Erfindungsgabe, die ihr Geist besitzt, auf die Erhaltung und Verschönerung des fremden Daseins richtete. Von Geburt über Gesittung bis zu Totenklagen reichte ihre Hingabe. So wie im väterlichen Prinzip die Beschränkung und Regulation liegt, so im mütterlich-weiblichen das der Allgemeinheit“, schreibt Erich Fromm in „Anatomie der menschlichen Destruktivität“.
Und Stanley Diamond in „Unsere Idee der primitiven Gesellschaft“: „Der Schrei nach Erlösung vom blossen Konsumzwang und Erwerbsstreben beinhaltet eine treffende Annahme über primitive Gesellschaften, nämlich dass durch Raub erworbenes Eigentum und die Produktion zum Zwecke des Profits in diesen Gesellschaften nicht existiert … Die Suche nach dem Primitiven ist daher so alt wie die Zivilisation selbst, ist von der Vision der Zivilisation untrennbar. Kein Prophet und Philosoph von Rang hat die Imperative seiner Version einer höheren Zivilisation formuliert, ohne bestimmte Konstanten der menschlichen Natur und Elemente einer primitiven Lebensweise vorauszusetzen, ohne sich also, kurz gesagt, auf die Anthropologie einzulassen. Ein Utopia, das ohne diese zwei Säulen auskommen will – ohne das Bewusstsein der menschlichen Natur und das Bewusstsein der Vergangenheit vor der Zivilisation -, wird zum Alptraum.
Denn dabei muss dann davon ausgegangen werden, dass die Menschheit unendlich anpassungsfähig und daher nicht in der Lage ist, die Geschichte zu verstehen oder sich selbst zu verbessern …“
Die Wende
Vom Teilen zur neolithische Mein-und-Dein-Organisation
Zur Zeit der Neolithischen Revolution, zwischen 30.000 und 3.000 v. u. Z., wurden die Menschen sesshaft, neben Jagen und Sammeln wurde Ackerbau und Viehzucht entwickelt, Vorräte wurden angelegt, Häuser und Dörfer entstanden, sogar Städte, es entstanden grössere soziale Gemeinschaften. Und es war die Zeit der grossen Erfindungen: Tier- und Pflanzenzucht, Weben, Spinnen, Sticken, Töpfern, der Schirm als Schutz vor Sonne, Kochen und würzen von Speisen, Werkzeuge und Waffen, der Spiegel, das Rasiermesser, Schmuck, Öl-Pressen und Öl-Lampen, der Pflug, die Uhr, das Rad, die Schrift.
Und die Menschen begannen sich künstlerisch auszudrücken, mittels der Herstellung von Schmuckstücken, Skulpturen und Malerei an Höhlenwänden, mit Motiven ihres Überlebenskampfes gegen Hunger und der Darstellung ihrer Objekte des Begehrens. Die Psyche der Menschen entwickelte Reflexion und Sublimierung, Eindrücke wurden geistig, künstlerisch, abstrakt verarbeitet.
Und die Menschen entwickelten den Trieb zur Fortpflanzung hin zu Liebe. Der Gründer des Instituts für prähistorische Kunst in Toulouse und Entdecker der Höhle von Rouffignac in der Dordogne, Louis-René Nougier, schreibt in „Die Welt der Höhlenmenschen“: „Das schlechteste Fossil des Planeten hatte sich endlich gegen das 12. Jahrtausend zur Revolution der Gefühle hin entwickelt in dem es nicht mehr `das Tier machte´, sondern Liebe, von-Angesicht-zu-Angesicht, der Königsweg auf dem sich der Geist ebenso erfreut wie die Sinne, das Flüchtige und Überwältigende wich dem Teilen“.
Im Neolithikum entfalteten sich die Gesellschaften in einer autoritären und inhumanen Weise, wie die zivilisierten Gesellschaften bis heute geblieben sind. Lewis Mumford schreibt in „Mythos der Maschine – Kultur, Technik und Macht“: „Aus dem Komplex des frühen Neolithikums entstand eine neue Art der sozialen Organisation: sie war nicht mehr … `demokratisch´, das heißt sie gründete sich nicht mehr auf nachbarschaftliche Vertrautheit … allgemeines Einverständnis, sondern sie war autoritär, zentral gelenkt und unterstand der Kontrolle einer dominierenden Minderheit … Die neue Kultur diente nicht der Förderung des Lebens, sondern der Ausdehnung kollektiver Macht. Durch die Vervollkommnung neuer Zwangsmittel hatten die Herrscher dieser Gesellschaft um das dritte Jahrtausend v. Chr. eine industrielle und militärische Macht in einem Ausmass organisiert, das bis in unsere Tage nie mehr übertroffen werden sollte. Machtausübung in jeglicher Gestalt war das Wesen der Zivilisation …“ Und Mumford betont, dass die Methoden dieser neuen Stadtorganisationen „rigoros, wirksam, oft hart, ja sadistisch waren, und dass die ägyptischen Herrscher ebenso wie die Könige von Mesopotamien auf ihren Denkmälern und Tafeln damit prahlten, wie sie höchst eigenhändig ihre wichtigsten Gefangenen verstümmelt, gefoltert und getötet hätten“.
Vor der neolithischen Revolution war allein die Frau zuständig für Schwangerschaft, Geburt und Kindeserziehung. Mit der neolithischen Revolution haben die Himmelsmysterien das Mutterleibmonopol gestürzt, indem sie dem Männlichen als „Transzendenten“ einen wesentlichen Anteil an der menschlichen „Ursprungsfunktion“ zuerkannten.
Es gelang dann durch die Erfindungen der Werkzeuge, technischer Fertigkeiten bei der Kultivierung des Landes, der Entwässerung von Sümpfen und der Produktion von Gebrauchsgegenständen ein hohes Mass an Überschüssen und Sicherung der Existenz zu erzielen. Es bilden sich Arbeitsteilung und Klassen von Handwerkern, Bauern, Priestern, Beamten – die Akte Bürokratie wird angelegt, – und Könige, als Repräsentanten der männlichen Götter. Die Verstädterung des Landes begann. Nicht mehr die Fruchtbarkeit des Bodens war die Quelle des Lebens, sondern jetzt war es der funktionalistische Verstand, technische Erfindungen, abstraktes und rationalistisch-prakmatisches Denken und Handeln.
Weil die den Männern überlegene Natur der Frauen imstande ist, Kinder auszutragen, zu, gebären und zu versorgen, Männer die Kinder nur aggressiv-lustvoll zeugen und danach oft davon laufen, waren Frauen, neben „ihrer Sorge über die Grenzen des eigenen Ich hinweg auf andere Wesen“ (Fromm), eingeschränkter. Das machten sich Männer zunutze als gesellschaftlicher `Reichtum´ entstand, Überschüsse und Freizeit, sie benutzten Frauen, liessen sie für sich arbeiten, beuteten sie aus, versklavten sie.
Und als der gesellschaftliche Reichtum wuchs, wurde Mein und Dein `positioniert´, Männer konnten Städte und Staaten gründen, Regierungen bilden, Kriege führen und Gefangene machen und sich weibliche und männliche Sklaven halten.
Und: Männer erfanden männliche Ideologien, patriarchalische Ideologien gegen Frauen, Herrenzynismen gegen Frauen und Gefangene, und gegen die `eigenen´ Leute, die Männer die nicht nach Macht, Reichtum, Egoismus, Eitelkeit und Narzismus strebten.
Und der paradoxe Gipfelpunkt: Egoismus, Eitelkeit und Narzismus wurden von Männern nun den Frauen attestiert, die Projektion von sich auf andere aus verdrängtem Gewissen, Scham und Schuldgefühle.
In der Antike wurde der Begriff Hysterie, altgriechisch „Gebärmutter“, als seelisch-geistige Wesensäusserung, als medizinische Diagnose zum Herrschaftsinstrument des Mannes über die Frau. Hippokrates verkannte und reflektierte, als männlicher Herrschaftsmediziner, „archiatros“, sich selbst nicht. So wurde Hysterie zur Frauenkrankheit.
Hippokrates vertrat das naturphilosophische Prinzip der Ausgewogenheit der Körpersäfte und die Beruhigung der Begierden. Er sah die Ursache der von ihm bereits als Krankheit verstandene und definierte Hysterie in der Gebärmutter. Wenn die Gebärmutter nicht regelmäßig mit Samen versorgt werde, dann schweift die Gebärmutter im Körper umher, beisst sich im Gehirn fest, und das führt zu hysterischem Verhalten.
Erst zweitausend Jahre später widersprach der englische Arzt Thomas Sydenham dieser Auffassung, und dreihundert Jahre später lehrten Charcot und Freud, dass Hysterie keine ausschliessliche Frauenkrankheit sei.
Und Männer attestierten Frauen Irrationalität, weil sie nicht ohne weiteres den männlichen rationalen Macht- und Reichtums-Ideologien folgten. Tatsächlich entwickelte sich die von Männern gemachte Welt zu einem irrationalen skrupellosen Dauerdesaster. Armut, Verhungerungen, Kriege, Unterdrückung, Ausbeutung sind Zustände die sich selbst richten, und deren simple Ungerechtigkeit und Menschenfeindlichkeit jedes Kind versteht.
Mangel, Hunger und Armut wurden nun zu systemimmanenten Unterthemen der gesellschaftlichen Organisationen mit Mein und Dein, einseitigem Reichtum, vielseitiges unsicheres Auskommen und Armut, Macht und Ohnmacht.
Bereits im Jahre 1.200 v. u. Z. wütete die erste historisch bekannte Hungersnot im Volk der Hethiter. Und weiter zogen sich durch die Zeit der Antike Hungersnöte, durch das Mittelalter in allen Kulturkreisen, in der Neuzeit, bis ins 20. und 21. Jahrhundert:
– 1315–1317 Hungersnot in weiten Teilen Europas,
– 1618–1648 Hungersnöte als Folge des Dreissigjährigen Krieges,
– 1771–1772 Hungersnot in Sachsen und in der Lausitz,
– 1816–1817 Hungersnot in weiten Teilen Europas,
– 1845–1849 Hungersnot in Irland mit 1.500.000 Toten,
– mehrere Hungersnöte in China mit ca. 17.000.000 Toten,
– mehrere Hungersnöte in Indien mit über 20.000.000 Toten,
20. Jahrhundert:
– Hungersnöte in Europa nach Beginn des 1. Weltkriegs,
– Hungersnöte in Deutschland ab etwa 1915 durchgängig mehr oder weniger bis 1935, dann gemildert und dann ansteigend ab 1943 bis 1948, ab 1960 steigende Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe, dann Hartz 4,
– 1920–1921 Hungersnot in Nordchina mit 500.000 Toten,
– 1928–1929 Hungersnot in China mit 10.000.000 Toten,
– 1959–1961 Hungersnot in China mit 30–43 Mio. Toten,
– 1943–1944 Hungersnot in Bengalen, Anzahl der Toten unbekannt,
– 1916–1918 Hungersnot im türkisch-deutsch besetzten Libanon, ca. 100.000 Tote, in dem damals von 450.000 Menschen bewohnten Gebiet,
– 1944–1945 Hungersnot in Vietnam, ca. 2.000.000 Tote,
– 1990er Jahre Hungersnot in Nordkorea,
– 1967–1970 Hungersnot in Biafra, Nigeria,
– 1968−1974 Hungersnot in der Sahelzone,
– 1973 Hungersnot in Äthiopien,
– 1984−1985 Hungersnot in Äthiopien
– erste Hälfte der 1990er Jahre Hungersnot in Somalia,
– 1990er Jahre Hungersnot im Sudan,
– 2000 Hungersnot in Simbabwe,
– 2003 Hungersnot in Darfur/Sudan,
– 2005 Hungerkrise im Niger,
– 2006 Hungerkrise in Äthiopien, Kenia, Somalia und Dschibuti,
im Jahre 2007 hatten etwa 923 Millionen Menschen keine ausreichende Ernährung, 73 Millionen mehr als noch in 2006, und an den Folgen der Unterernährung sterben täglich 13.000 Kinder, insgesamt 25.000 Menschen,
weltweit müssen rund eine Milliarde Menschen mit einem Dollar pro Tag auskommen, weitere fast zwei Milliarden Menschen haben weniger als zwei Dollar zur Verfügung, ein Drittel der Weltbevölkerung wird nicht ordentlich versorgt, eine Milliarde Menschen hungern, und etwa 100 Millionen Menschen verhungern gegenwärtig.
Die seit der Antike von Schreibern erfassten Hungersnöte repräsentieren Ordnungsentwürfe der jeweiligen Gesellschaftsformationen, in denen Katastrophen von massenhaften Verhungerungen schicksalshaft dargestellt werden wie Naturkatastrophen, Epidemien, Götterstrafen, Kriegsfolgen verursacht durch den Feind.
Tatsächlich existierte grundsätzlich in allen zivilisierten Gesellschaften permanente Armut und alltäglicher Hunger, wie auch unsicheres Auskommen und Reichtum herrschte. Armut und Hunger wurde in den zivilisierten Gesellschaften nie abgeschafft, ebenso wenig wie die Folter, oder wie die Domestizierung von Kindern als `Menschen zweiter Klasse´, oder wie Unterdrückung der Frauen. Nur in den vorzivilisierten Gesellschaften herrschte Mangel aufgrund von Ermangelung von Überschüssen und Reichtum, da die Menschen noch mit dem Kampf ums Überleben beschäftigt waren. Es war natürliche Armut die durch Nahrungsarbeit überwunden wurde. Und in sesshaften Gesellschaften erlangten die Menschen Auskommen und kleine Vorratshaltung. Es gab keinen Profit, kein Kapital, keinen Privatbesitz, gar Besitz von Land war undenkbar (bis heute bei manchen `Naturvölkern´). Es wurde getauscht, und wer zu wenig zum tauschen hatte, dem wurde gegeben („Die Gabe“, Marcel Mauss). Nur in zivilisierten Gesellschaften herrschte keine natürliche Armut mehr, sondern organisierte Armut, obwohl ausreichender Reichtum vorhanden war (von kurzzeitigen Ausnahmephasen durch Naturkatastrophen abgesehen).
Armut ist eine Untugend
Die französischen Kulturhistoriker Philippe Ariés und Georges Duby führen in der „Geschichte des privaten Lebens“ aus, dass Reichtum und Müssiggang in den antiken Sklavenhalter-Gesellschaften als Tugenden galten; wie auch als Tugend galt, dass der Mann nach römischem Recht der Besitzer seiner Frau und seiner Kinder war.
Anders als im Mittelalter, wo der Adel verstreut übers Land in befestigten Schlössern und Burgen lebte, residierten die Reichen in den Städten, Athen, Rom, wie später der `Stadtadel´ in der italienischen Renaissance. In Platons idealer Stadt führt der Bürger von Rang ein Leben im Müssiggang und lebt von den Arbeiten der Sklaven, Bauern und Handwerker. Die Besitzenden arbeiten nicht, sondern pflegen die Tugend der Verwaltung ihres Besitzes und tätigen Grosshandelsgeschäfte. Der Zwischenhandel wiederum wurde verächtlich als Arbeit betrachtet. Cicero schrieb: „Jede Lohnarbeit ist schmutzig und eines freien Mannes unwürdig … jedes Handwerk ist schmutzig, ebenso der Zwischenhandel“. Noch bis zur Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wurde der Handel gemeinhin beargwöhnt, weil der Kaufmann durch Handel ein Neureicher war, hingegen der alte Reichtum aus Grund und Boden stammte. Im antiken Rom konnte ein reicher Kaufmann nur dann innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft aufsteigen, wenn er zusätzlich Grund und Boden erwarb. Nach Cicero war ein Kaufmann nun nicht mehr verächtlich zu sehen, sondern zu loben. Der Boden galt als universelle Investition des Reichen und seine Verwaltung als Tugend, der Handel hingegen nur als Mittel zum Zweck, um reich zu werden und daher als Arbeit. Der Erbe war dem Neureichen überlegen. Und wenn der Bodenbesitzer zusätzlich Geschäfte als Händler tätigte, galt er nicht als untugendhafter Händler. Am Anfang stand der Besitz und dann erst kam der Handel.
Und nach Aristoteles führen Sklaven, Bauern und Krämer kein „glückliches“ Leben in Tugend, weil sie nicht „unbelastet von notwendigen Aufgaben sind … da man die Tugend nicht üben kann, wenn man das Leben eines Arbeiters führt“. Armut ist an sich ein Defekt und eine Untugend (die Frau betrachtete Aristoteles als „unvollständigen Mann“, diese Ansicht hielt sich bis ins Mittelalter; oder länger?).
Für Fürst von Metternich begann der Mensch beim Freiherrn, und bei Griechen und Römern beim reichen Besitzenden. Der Redner und Staatsmann Demosthenes wurde als Angeklagter vor dem Gericht des athenischen Volkes freigesprochen, weil er nachweisen konnte, dass sein Kontrahent als Kind in ärmlichen Verhältnissen, sein Vater war Lehrer, aufgewachsen war, und er selber in reichen Grundbesitzer-Verhältnissen.
Gegen dieses Wertungssystem von Kapital, Arbeit und Moral bildeten sich zwei Verweigerungs-Bewegungen: die kynische (grch.. „Hund“) als Bedürfnislosigkeit und Freiheit eines Hundelebens, und die hedonische (grch. „Freude, Lust“) als Bedürfnislosigkeit im Streben nach Lust.
Das von Sokrates übernommene Ideal der Autarkie der Bedürfnislosigkeit wurde von Antisthenes und Diogenes von Sinope gegen herrschende Moral, religiöse und staatliche Gesetze gelebt. Das Erste was den bürgerlichen Athenern an Diogenes schockierte, war seine Kleidung und sein Bart. Und das zweite Schockierende war, dass Diogenes ohne Begleitsklaven umherging, was den Athenern als Schande galt. Diogenes drehte den Spiess der bürgerlichen Doppelmoral um, lief am hellichten Tag mit einer Laterne durch Athen und antwortete auf die Frage der Bürger, nach dem Sinn seines Tuns, „ich suche Menschen, nicht Unflat“. Die soziale und moralische Ungerechtigkeit und der Egoismus der Athener Sklavenhalter-Demokratie war für Diogenes der Müll, nicht die Armen. Alexander der Grosse wollte gar Diogenes sein, wenn er nicht Alexander wäre.
Die Verweigerungsbewegung des Hedonismus wurde von Aristippos begründet, dem Epikur nahe stand. Beide Bewegungen verweigerten bürgerliche Arbeit, wie auch Jesus von Nazareth, die über das notwendige Mass hinausging und blosser Anhäufung von Besitz und Macht diente.
Für Gleichheit trat das vorchristliche abendländische Denken schon um 600 v. Chr. ein, in Person des athenischen Gesetzgebers und einem der Sieben Weisen, Solon, der Gründer der athenischen Demokratie. Mit Wenigem glücklich sein, Neid, Geiz, Habgier, Übervorteilung verhindern, Tugend statt Überfluss leben, lehrte er. Er tilgte die allgemeinen Schulden und verkündete, zu großer Besitz soll geteilt werden.
Mittelalter und Neuzeit
Die seit der Antike von Schreibern erfassten Hungersnöte repräsentieren also Ordnungsentwürfe der jeweiligen Gesellschaftsformationen, in denen Katastrophen von massenhaften Verhungerungen kommuniziert werden wie Naturkatastrophen, Epidemien, Götterstrafen, Kriegsfolgen durch den Feind verursacht.
In allen Gesellschaften der Geschichte existierte und existiert Armut und alltäglicher Hunger, wie unsicheres Auskommen und Reichtum. Und in allen zivilisierten Gesellschaften wurde Armut von der gesellschaftlichen Kommunikation, Bildung, `Gerechtigkeit´, Menschenwürde ausgegrenzt.
Bildende Künstler stellten in allen Gesellschaften Armut in ihren Kunstwerken dar. Die bekannte älteste direkte Darstellung des Begehrens nach Nahrung ist die 12.000 Jahre alte Felsenmalerei aus einer Höhle bei Cueva de Arania bei Valencia. Ansonsten dreht sich ein Grossteil der Höhlenmalerei um Nahrung und deren mystisch-religiöse Verherrlichung, als ein emotionales Verständnis von Verwandschaft mit der Natur, den Tieren. Bis heute werden der Festtagsbraten, das Osterlamm, die Weihnachtsgans, der Silvester-Karpfen, der Thanks-giving-Truthahn, die Geburttagstorte (das Ei) und der Leichenschmaus, als direkte Sakralisierung der Nahrung, geheiligt. Und in jüngster Zeit zelebrieren Fern-seh-Medien Koch-sendungen auf allen Kanälen, angesichts der so genannten Neuen Armut, um die Objekte des Begehrens gegen den Mangel zu beschwören, prinzipiell nicht anders, als ein archaischer Zauberer, Schamane, welcher in der ökonomischen Magie natürliche Werte und Wertsachen zelebriert, das Wachsen von Pflanzen, der Reichtum von Landtieren und Fischschwärmen geschildert, und die Wörter werden vom Magier immer in der dem Thema und Ziel entsprechenden Leidenschaft agiert (Fernsehköche).
„Der Ritus imitiert sein Ziel“, sagt der Ethnologe Sir James Frazer. Ob ein Ritus der Nachahmung, der Vorausschau oder einfach der Verzauberung dient, ein Merkmal ist ihnen immer gemeinsam: die Kraft, die Wirksamkeit der Magie muss immer auf das Objekt übertragen werden (heute die Fernsehzuschauer). Und diese Kraft ist die Beschwörung, das wichtigste Element in der Magie. Die Zauberformel ist immer Kern der magischen Handlung.
Die Tradition spielt in primitiven Zivilisationen eine ausserordentliche Rolle und konzentriert sich auf das magische Ritual und den Kult. Daran hat sich bis heute nichts grundlegend geändert. Jede Magie hat eine Geschichte. Darin wird berichtet, wann und wo die Magie in den Besitz des Menschen kam, eines Stammes, eines Clans, einer Familie. Jedoch nicht als Entstehungs-Geschichte, sondern als Geschichte ihres Immer-schon-dage-wesenen-Seins. Magie war immer schon da, sie ist so alt wie die Natur/Menschen und Dinge die von ihr beherrscht werden.
Magie ist nicht nur in ihrer Verkörperung, sondern auch in ihrem Inhalt menschlich: Sie bezieht sich hauptsächlich auf menschliche Tätigkeiten und Zustände, Jagd, Bodenbestellung, Fischfang, Handel, Liebesspiel, Lebensangelegenheiten, Krankheit und Tod. Die Lebensangelegenheiten werden als das direkte Ergebnis von Beschwörung und Ritus verstanden. Sie ist ein Urbesitz des Menschen, der nur durch Überlieferung vermittelt werden kann und durch den sich die autonome schöpferische Kraft des Menschen bestätigt – in der gesamten atmosphärischen Spanne von Jubel-, Erfolgs-, Sieger- und Verlierer-Geschichten über Mitleids- und Angst-Geschichten, Spass- und Erbauungs-Geschichten bis hin zu Horror- und Gewalt-Geschichten (Medien heute).
Magie agiert auf einer vorkausalen Gefühlsdenkebene der Analogie, ein Glaube, „dass das Abbild mit dem Urbild durch geheimnisvolle Kräfte verbunden sei und Gleiches auch Gleiches bewirken oder hervorbringen könnte“.
Nachahmende Magie beabsichtigt durch das gemahlte Bild in der Höhle das begehrte zu jagende, gefürchtete, verehrte Tier zu bannen, oder anders durch Imitationen und Zeichen das Wetter zu beeinflussen (TV-Wetterberichte), im Kriegstanz den Sieg über den Feind zu beschwören (Medienhetze).
„Der Ritus imitiert sein Ziel“, heute opfert er tatsächlich und direkt.
Bildende Künstler stellten also in allen Gesellschaften Armut in ihren Kunstwerken dar, nach der Vorzeit so auch im Altertum, der Antike und besonders im Mittelalter wurden Hunger, Armut, Not, Schrecken, Tod, Verzweiflung künstlerisch bezeugt.
Mit dem Niedergang der mittelalterlichen Wirtschaft wachsen Verzweiflung und Zweifel bei den Bauern, auch bei Kleinbürgern, Handwerkern, Proletariern. Die Empörung richtet sich gegen Kaiser, Könige, Fürsten und gegen den Klerus, denen gerade das Schicksal hart arbeitenden Menschen und der Armen einerlei ist. Christus selbst hingegen hatte mit den Mühseligen und Beladenen gelebt.
Nachdem Armut zur bisherigen Menschheitsgeschichte als eine Art naturgegebener Zustand ignorant gesehen wurde, wird im Übergang vom Spätmittelalter zum Industriezeitalter Armut als strukturelle Massendisposition im gesellschaftlichen Gefüge organisiert. Breite Bevölkerungsschichten wurden vom gesellschaftlichen Zuwachs von Finanzkapital und Produktionsreichtum abgekoppelt.
Die Träger der sich bildenden „Laienbewegung“ sind gerade nicht Kirchenfürsten und Ideologen sondern das Volk. Das Christentum war bekanntlich von Christus selbst her eine Laienbewegung, die sich u. a. gegen die Priesterschaft wendete.
Bereits der Kirchenvater Origenes war ein Ketzer, dann Joachim di Fiore, und bereits Tertullian hatte gelehrt, dass Christus ein drittes Testament bringen werde, nämlich die Kirche wird vergehen nach dem Zeitalter der Furcht, das Alte Testament, und nach dem Zeitalter der Liebe, das Neue Testament, kommt das Zeitalter der Erleuchtung.
Am Ende des mittelalterlichen Denkens steht Nikolaus von Cusa. Die Zeit wird zwielichtiger, eine neue Zeit zieht auf. Mit seiner Idee des „Zusammenfalls der Gegensätze“ in der Vernunft als die Verbindung von Metaphysik und theologischer Spekulation, rückt er das Subjektive in den Mittelpunkt, und wirkt damit bis ins 19. Jahrhundert.
Theologie und Anthropologie bedingen sich. Gott ist als geistiger Selbstvollzug/Geist eine zu sich selbst verhaltende Lebendigkeit, nicht bloss eine dinghafte Substanz. Die Dreieinigkeit Gottes ist geistig-ichhaft. Alle empirisch nicht aufhebbaren Gegensätze sind in Gott eines: er ist das Grösste und das Kleinste, das Sein und das Nichts. Der Mensch ist ein „menschlicher Gott“ und vermag deswegen autonom in der Welt zu handeln.
Und Erasmus von Rotterdam galt in seiner Zeit als „König der Humanisten“. Er verband Geist und Ethos der klassischen Antike mit der Morallehre Jesus Christus zu einer „Philosophia Christi“, mit der er kritisch die Überheblichkeiten der Hirarchen und der Gewohnheitschristen angriff, um die Kirche von innen her zu erziehen und zu reformieren. Sein Ruf nach Bildung, Moral und Vernunft eröffnete später das Zeitalter der Aufklärung.
Die neue Zeit der Renaissance dann war nicht einfach eine Widergeburt alter Zeiten, der Antike, keine Wiederholung, vielmehr war es eine Neugeburt von Gedanken, die den Menschen noch nie in den Sinn gekommen waren und ein Durchbruch wissenschaftlicher und künstlerischer Gestalten, wie sie bisher nicht auf der Erde zu sehen waren.
Der Mensch wird nun als arbeitender Mensch geachtet – nicht mehr, wie es in der Antike der Fall war, geächtet -, der homo faber entsteht, der in die Welt erzeugend-eingreifende Mensch.
Eine frühkapitalistische Wirtschaftsweise bricht durch, eine ökonomische Epoche, worin das Bürgertum der Städte im Bund mit dem absolut herrschenden König versucht den ritterlichen Feudalismus zu zerstören, wie seit dem 13. und 14. Jahrhundert bereits angebahnt in Handwerkeraufständen in Italien.
Insbesondere das Handelskapital verstärkte seine unternehmerischen Anstreng-ungen, die erste Bank wurde von den Medici in Florenz gegründet, Manufakturen/gewerbliche (Gross-) Betriebe setzten sich neben den Handwerks-Kleinbetrieben durch, – ein offener Weltmarkt bagann als frühkapitalistische Warenwirtschaft. Da Italien der Ort war, wo die wirtschaftlichen Fesseln der Feudalzeit zuerst gesprengt wurden, ist Italien der Geburtsort der Renaissance.
Zweierlei Neues entsteht so: Das Bewusstsein auf Basis der individuellen kapitalistischen Wirtschaftsweise, als Überwindung der ständischen Wirtschaftsweise mit geschlossenem Markt. Und das Bewusstsein offener Weite gegenüber dem geschlossenen Weltbild der feudal-theologischen Gesellschaft.
Die Renaissance ist das Zeitalter der Erfindungen neuer Produktionsmittel und damit der Erfindung seiner selbst, des individuellen Bewusstseins, von individuellen Kräften, die bisher nicht entfaltet waren.
So spiegelt sich das Individuum im gesellschaftlichen Überbau:
Im Theater siegt das Charakterdrama über die höfischen Rollentypen. Insbesond-ere bei Shakespeare erscheint die unverwechselbare Person, statt der gleich-mässigen höfischen, bürgerlichen und bäuerlichen Menschen. Der einzelne Mensch bekommt individuelles Gesicht und Profil.
Geographisch ist es das Zeitalter der Entdeckungen der Ferne, u. a. Kolumbus und Magellans Erdumseglung.
Kosmologisch entdeckte Kopernikus das heliozentrische Weltbild gegen das geozentrische. Dass die Erde sich um die Sonne dreht hatte bereits um 400 v. Chr. der antike Philosoph Archytas von Tarent formuliert. Und der französische Mathematiker Nikolaus von Oresme hatte ebenfalls diese Entdeckung gemacht und sie besser durchgerechnet als Kopernikus.
Dementsprechend entdeckt die Malerei ebenfalls die Weite und die Tiefen-dimension. Nach dem Mittelalter wandte sich der Blick endlich ab vom Jenseits der Hölle und des Paradieses hin ins Diesseits, um das Unendliche als offene Ferne zu suchen. Es entstand die Tiefe der dritten Dimension als Bildraum und Durchdringung der Natur. Der Beschauer blickt in die Tiefe des Raums durch ein offenes Fenster, ist selber in der offenen Szene. Solche stillen Bilder entstanden sowohl als Landschaften wie als Portraits – so bei da Vinci, Piero della Francesca, Jan van Eyck.
Martin Heidegger schreibt in „Die Zeit des Weltbildes“: „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens“.
In der griechischen Antike verstanden die Menschen die Welt um sie herum als ein allgegenwärtiges Vorhandenes Ansich. Das Sein war die Welt des Mittelmeer-raums, mit dem Boden auf dem sie standen, der Natur um sie herum und dem Universum über ihren Köpfen.
Um es für sie erfassbar zu machen, abstrahierten sie das allgegenwärtig An-sich-Vorhandene als oberstes Sein im olympischen Götterhimmel, und konkretisierten es als Statuen, Fresken, Bilder. Und in ihrer Vorstellung beschauten sie das grosse Ansich des Überirdischen, und sie nahmen ihr Leben als ihnen vermeintlich zugewiesenes an mit ihren Konflikten und Schicksalen, umgetrieben, gezeichnet und ausgeliefert.
Die Welt der Griechen konnte nicht zum Welt-Bild werden, weil den Griechen noch das Selbst-Bewusstsein ihrer selbst und der Welt fehlte, wiewohl der Philosoph Thales von Milet fragen konnte: „Was ist der Mensch?“, Sokrates fragen konnte: „Wer bin ich?“, und das Orakel von Delphi mahnen konnte: „Erkenne dich selbst“.
Und ebenso wenig konnte die Welt des Mittelalters, in der das Sein von einem einzigen Gott als oberste Ursache geschaffen war, zum Welt-Bild werden. Hier wie dort hat der Mensch keine Verfügungsmöglichkeiten über sein Eigen-Sein und das Welt-Sein, er hat kein eigenes Weltbild von sich und der Welt.
Erst die Neuzeit kann sich ein Bild von der Welt machen, die Welt selbst als Weltbild verstehen, in ihrer Natur, dem Kosmos, der Geschichte, – dem Wesen des Sein. Die Erde ist keine Scheibe mehr, sondern eine Kugel. Die Sonne dreht sich nicht mehr um die Erde, sondern die Erde ist Trabant der Sonne, in einer Galaxie, die nur eine von unzähligen Galaxien ist. Die Menschheit ist kein göttlich ausgewähltes Volk auf dem einzigen göttlichen Planeten, der einzig im Weltall, dem „Sensorium Gottes“, wie Isaak Newton es nannte, schwebt, sondern die Erde ist ein Stern unter ungefähr so vielen anderen Sternen, wie Sandkörner in den irdischen Wüsten existieren. Der Mensch ist nicht von einem einzigen Gott als der obersten Ursache, Sein des Seienden, geschaffen.
Er, der Mensch, macht sich nun willentlich und bewusst zum freien Subjekt, unabhängig von vermeintlich höherem Vorhandenen stellt er sich auf sich selbst. Wahrheit wird nicht mehr in Projektion in die Höhe gesucht, sondern mitten in der Tiefe des realen Lebens.
Hatten die antiken Völker die Welt noch gedanklich sphärisch umrundet und transzendiert, umrundeten im Mittelalter die Entdecker mittels Weltumseglungen mit Schiffen in persona den Globus und machten sich die Erde untertan. Schliesslich wird der Globus in der Moderne durch Flugzeuge und Schiffe, Kapitalströme und Signale, Informationen, elektronische Kommunikation, dem Internet, Bilder in einer Weise umrundet, das diese gleichsam eine zweite Erdatmosphäre bildet.
Es findet also eine Umkehrung der Werte statt: das Jenseits wird zunehmend langweilig, statt dessen wird nun das Diesseits interessant und insbesondere der Trieb für eine bessere Welt. Eine bürgerlich-revolutionäre Gesinnung strebt nach einer menschlichen Freiheit, die auf der Suche nach wahrer Freiheit ist.
Und: Was und wie sei diese wahre Freiheit? Der Staatskanzler Heinrich des VIII. von England, Thomas Morus, schrieb den Staatsroman „Utopia“, mit einer Verfassung des Gemeinwesens ohne Privateigentum, mit Bildung für alle und Religionsfreiheit.
Weitere Staatsromane des Humanismus, die sich an die antike Philosophie anlehnten, schrieben Tommaso Campanella, 1568 bis 1639, „Der Sonnenstaat“, und Francis Bacon, 1561 bis 1626, „Neu Atlantis“, auch Lord-Kanzler, er forderte naturwissenschaftliche Forschung, damit Menschen in glücklicher Gemeinschaft leben können, und er prägte den Begriff „Wissen ist Macht“, Bildung gegen Ohnmacht und Armut. Das Denken bewegt sich heraus aus der Macht eines Gottes und seiner Kirche hin zur Macht des freien Denkens.
Die Grundabsicht seiner Lehre ist neu: Es gibt keine Wahrheit um ihrer selbst willen, keine Erkenntnis an sich (wie bei den Griechen und bei den Christen Gott), sondern alles Erkennen soll den Menschen nützlich sein, in dem Sinne, dass für alle Menschen das Glück auf Erden gegründet werde, also: die Nützlichkeit ist die Grundlage für sittliches Verhalten und ideale Werte sind nur dann solche, wenn sie dem einzelnen Menschen und der Gemeinschaft nützen. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass die aufstrebende Wirtschaftsweise des beginnenden industriellen Kapitalismus, in Ablösung des Handelkapitals, allen Menschen Erlösung von Mühsal, Armut, Krankheit und grösstmögliches Glück beschert. Eine Vorstellung die später Motiv in relevanten Philosophien, Wissenschaften, Künsten wird.
Und: im 17. Jahrhundert entsteht der Begriff „Erfolg“, den es bis zum Ende des Mittelalters nicht gab. Mit dem aufsteigenden Bürgertum beginnt Konkurrenz, Männer sind nun erfolgreich, oder nicht. Die Anfänge der Winner-Loser-Kultur.
Der Begriff „Profit“ wird allgemein und von Baruch de Spinoza bis dahin gebraucht als „es nützt der Seele … es nützt der Entwicklung des Menschen“. Erst hundert Jahre später wird der Begriff gepriesen, um einseitigen ökonomischen Vorteil zu bezeichnen.
Mit der massenhaften Enteignung der Landbevölkerung, der Aufwertung des Geldes im Verhältnis zu gegenständlichem Besitz und der Konzentration von Kapital als Privatbesitz bei Wenigen, verbreitete sich im 18. und 19. Jahrhundert massenhafte Verelendung bei der durch die Umwälzung entstandene Klasse des Proletariats, und offenbarte endgültig die Mangelhaftigkeit der wirtschaftsgesellschaftlichen Struktur sowie das Unrecht des zivilisierten Systems.
Der Begriff Pauperismus entstand nun, als sich verheerende Massenarmut ausbreitete. Lohnarbeiter und Lohnarbeiterinnen, Kinder, Handwerker konnten kaum noch für ihren Lebensunterhalt sorgen, trotz zeitaufwendigem und hartem Arbeitseinsatz, und diejenigen, die durch die vorangegangenen Enteignungen ohne Arbeit waren, verarmten vollends.
Dieses 19. Jahrhundert war nicht nur eine Zeit von gesellschaftlichen, ökonomischen, geistigen und kulturellen Krisen, sondern es steigerte Nationalismus und brachte auch die Weltkriege, Völkermorde und Diktaturen des 20. Jahrhunderts hervor.
Mit der Armengesetzgebung im 19. Jahrhundert wurde eine Spaltung zwischen Bürgertum, Arbeiterschaft und Armen festgeschrieben. Die sozialstaatlichen Massnahmen, bedrängt durch politischen Einflüsse der sozialen Bewegungen und der Gewerkschaften, gaben der Armut mildernde Umstände und implantierten diese als `Normalität´, ähnlich wie Folter, Todesstrafe, Strafe-muss-sein in der Erziehung, die Frau als Mensch zweiter Klasse. Michel Foucault führt aus, dass im 19. Jahrhundert die vier grossen Strategien der Macht manifestiert wurden: Sexualisierung des Kindes durch die Pädagogik, Regulierung des Bevölkerungs-wachstums in den Familien durch die Sozialwissenschaften, Hysterisierung der Frau durch die Medizin und Spezifizierung der „Abweichler“, Perversen durch die Psychiatrie.
Die älteste Strategie der Macht ist die Ausbeutung der Frau, neben derjenigen der Kinder, mit der Folge der allgemeinen Ausbeutung und gesellschaftlich, staatlich organisierter Armut.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff „Klasse“ für Arbeiter und Armut verbannt und von Neuer Armut gesprochen (beides änderte nichts).
Der „Ernstfall“ Globalismus
oder: `Das Dicke Ende´?
(in cauda venenum / im Schwanz ist das Gift = Das Dicke Ende kommt)
„Wir leben in einer absolut mörderischen Weltordnung … und gegen die muss man andenken, anreden, an-analysieren. Das Denken befreit die Freiheit im Menschen. Was der dann mit seiner Freiheit tut, das ist das Mysterium der Geschichte“,
Jean Ziegler
„Denkweise von Renaissance-Höfen“
Franz Böhm schreibt 1954 in seinem Geleitwort zur Studie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung über die öffentlichen und nichtöffentlichen Meinungen im Nachkriegsdeutschland: „Die Bekenner nicht-öffentlicher Meinungen sind alles andere als schüchtern und verschwiegen. Sie sind durchaus geneigt, einem diese Meinungen sogar höchst herausfordernd oder aber mit sanft bohrender Eindringlichkeit ins Gesicht zu sagen … Ein sehr grosser Teil von ihnen hat … eine Denkweise, die ursprünglich keineswegs volkstümliche Lehren und Denkweisen waren, sondern die Denkweise von Renaissance-Höfen, Herren und Überlagerern, die sich den Teufel um individuelles Leid und um das Schicksal von Menschen kümmerten, die sich in den sozialen Sphären unterhalb der Regentenschicht herumtrieben. Hier ist in ganz grossem Umfang Herrendenken, und zwar schikanösestes und herzlosestes Herrendenken im Zuge der Jahrhunderte bei Müller und Schulze angelangt … Kanäle geben, auf denen die Meinungen der nicht-öffentlichen Meinung kursieren. Wahrscheinlich bestehen diese Kanäle in Familien-, Bahn- und Kollegengesprächen … Denn das Denken der Eltern prägt sich den Kindern unauslöschlich ein, und die am Tisch mit Nachdruck geäusserten Vorurteile der Väter haben im Ohr der Kinder den Klang ehrwürdiger Weisheiten …“
„… bei Müller und Schulze angelang“ von Oben nach Unten. Gerade im autoritären Nachkriegsdeutschland trat das Denken ein Erbe an, welches schikanöser und herzloser hätte nicht kaum sein können. Erst fünfundzwanzig Jahre später wurde mehr Demokratie gewagt und von Willy Brandt verkündet, dass der Zynismus der Satten überwunden werden müsse.
Hunger und Armut ist der Urzustand der Menschheit. Hunger und Armut haben die Menschheitsgeschichte durchlaufen und nie aufgehört, wie die Folter, wie die Unterdrückung und die Rache an Kindern, die Ärmsten der Armen. Hunger und Armut sind zum gesellschaftlich systematisierten Verwaltungsakt organisiert worden, wie daneben unsichere Einkommen. Die Armen leben zusätzlich, neben ihrer Armut, ihrer Isolation, zu Unpersonen gemacht, in dem ständigen Nichtwissen darüber, ob dieser Zustand je aufhören wird. Und die Menschen mit unsicheren Einkommen leben in der Angst der Armut anheim fallen zu können. Selbst Menschen mit gewissem Reichtum leben mehr oder weniger in der Angst verarmen zu können. Und dieser Zustand wird aufrecht erhalten, obwohl die Kapazität des Reichtums der Welt die gesamte Menschheit problemlos und sogar die doppelte Anzahl von Menschen ernähren könnte. Die Besitzer und Verfügungsgewaltige über Reichtümer müssen deswegen nicht ärmer werden, oder nicht nennenswert. Wer meint, er müsse über mehr Geld und sonstigen Besitz verfügen, als ein Mensch im Leben, oder in mehreren Leben braucht, mag glücklich damit werden.
Baronin von Brandstetter sagte in einem TV-Interview, dass sie sich mit ihrem Vermögen von vierzig Millionen Euro „wie eine Sozialhilfeempfängerin“ fühle, angesichts der Preise der Yachten von um die einhundert Millionen Dollar bei einer Yachtausstellung in Monte Carlo. Ihre Sicht ist nachvollziehbar mit Blick auf Vermögen von hunderte Millionen und von Milliarden Dollar. Nur hilft das den tatsächlichen Sozialhilfeempfängern nicht. Für diese genügt ein Einkommen auf Niveau des bürgerlich-gesellschaftlichen Reichtums. Wer dann mehr daraus machen will, hat eine Chance, – wenn schon gleiche Bildung für alle fehlt.
In der modernen Konsumismus-Gesellschaft bringt nur der den Verwaltern von Besitz und Kapital Gewinn, der Arbeit hat. Er produziert Mehrwert und konsumiert Waren. Tugendhaft ist nicht mehr nur der Besitzende, sondern nun auch der Arbeitende und Konsumierende, der Homo Konsumismus. Untugendhaft ist jetzt nicht mehr der arbeitende Mensch, sondern der Arbeitslose und Nichtkonsumierende.
Nicht nur Adam Smith, G. W. F. Hegel und Karl Marx haben vor rund 200 Jahren erkannt, dass der Kapitalismus nicht existieren kann, ohne Elend zu produzieren, dass einseitiger Reichtum vielseitigen Mangel schafft, sondern u. a. auch der englische Mathematiker und Ökonom John Maynard Keynes – der berühmte „Keynesianismus“, das System der Demokratie -, welcher prophezeite, dass das System der Marktwirtschaft grundsätzlich keine stabile Entwicklung garantiere. Und: „Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden“.
Der preussische Staatsphilosoph Hegel schrieb über Armut, u. a. in den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“: „Die Entstehung der Armut ist überhaupt eine Folge der bürgerlichen Gesellschaft, und sie ergibt sicht im ganzen notwendig aus derselben … Es häuft sich so Reichtum ohne Mass und Grenze an der einen und Not und Elend an der anderen Seite … Die Vermehrung des Reichtums und der Armut hält gleichen Schritt … Mit der Anhäufung der Reichtümer entsteht das andere Extrem, Armut, Not und Elend … Nicht nur die äussere Not ist es, die auf dem Armen lastet, sondern es gesellt sich dazu auch moralische Degradation … Diese beiden Seiten, Armut und Reichtum, machen so das Verderben der bürgerlichen Geselschaft aus“.
Für Hegel ist das Leben Jesu exemplarisch für ein ethisch reines Leben im allgemeinen Leben. Die „schöne Religion“ ist Teil seiner zu sich selbst kommenden Geschichte der Philosophie, die Gedanken der Vergangenheit seit den Griechen über sich selbst zu reflektieren, als ein System der spekulativen „Metaphysik des Absoluten“. In der „Phänomenologie des Geistes“ wird die Bildung des menschlichen Wissens methodisch als Stufengang rekonstruiert: das individuelleBewusstsein, die individuelle Selbsterfahrung als Selbstbewusstsein an anderem Selbstbewusstsein, Vernunft, Geist, Religion als das Wesen und das Absolute Wissen als der Begriff, als die „begriffene Geschichte“.
Hatte Hegel die Begrifflichkeit als Entwicklung des philosophischen Denkens, also die Entwicklung des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins und des Geistes und des Lebens überhaupt bis an die Grenze verdichtet, und über die Verhältnisse des allgemeinen Denkens und den gesunden Menschenverstandes gewarnt, so wendete Marx die idealistische Ausgangslage auf dem Boden der Tatsachen des Seins aus, welches das Bewusstsein bestimmt: „Wenn die Verhältnisse den Menschen bilden, dann müssen die Verhältnisse selbst erst menschlich gebildet werden“. Und hinsichtlich seiner Vordenker, die die Entwicklung des Denkens ausführten: „Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“.
Als Marx bei seiner Analyse des Kapitals auf das Problem des Arbeiterelends stiess, hat er die übliche Erklärung verworfen, die aus diesem Elend die Wirkung einer natürlichen Knappheit oder eines Diebstahls machte. Stattdessen hat er analysiert, dass die grundlegenden Gesetze der kapitalistischen Produktion unweigerlich Elend produzieren. Es ist nicht der Zweck des Kapitalismus, die Arbeiter auszuhungern, aber der Kapitalismus kann nicht funktionieren ohne sie auszuhungern. Marx hat die Anklage des Diebstahls durch die Analyse der Produktion ersetzt.
Und Marx erkannte den mystisch-rituellen und meta-religiösen „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“, und dass die Waren und deren Preise die Kriegswaffen ersetzen, und den Hass gegen andere Nationen und Völker in Handel und Geschäftemachen verwandeln, wie es Norbert Bolz in „Das konsumistische Manifest“ betont.
Peter Sloterdijk bemerkt dazu in „Spähren III, Schäume“, dass die Kaufkraftbesitzer die „explizit gemachte menschliche Natur durch den Verzehr von Gegenständen, Zeichen und Lebenszeiten“ verwirklichen. „Der konsumistische way of life besitzt freilich den Nachteil, dass der Marktfrieden die Menschen nervlich unterfordert – ihnen fehlt das Ernstfallgefühl, dass die Befreiung von der Langeweile verspricht.“
„Die Menschen draussen“
„Sei misstrauisch gegen den, der behauptet, dass man entweder nur dem großen Ganzen oder überhaupt nicht helfen könne. Es ist die Lebenslüge derer, die in der Wirklichkeit nicht helfen wollen und die sich vor der Verpflichtung im einzelnen bestimmten Fall auf die grosse Theorie hinausreden. Sie rationalisieren ihre Unmenschlichkeit. Zwischen ihnen und den Frommen besteht die Ähnlichkeit, dass beide durch ‘höhere‘ Erwägungen ein gutes Gewissen haben, wenn sie dich hilflos stehen lassen“,
Max Horkheimer, „Dämmerung, Notizen in Deutschland“, 1934
1998, Christian Pfeiffer, damals Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, befragt zu den Ausschreitungen von Rechtsradikalen: „Wir haben zunehmend eine Winner-Loser-Kultur … steigende Gewalt … weil nicht mehr jeder seines Glückes Schmied ist …“
Die Herkunft dieses geflügelten Wortes geht auf Schriften des Römers Sallust zurück, wo es heisst: „Jeder ist seines Glückes Schmied“, nach Appius Claudius, Römischer Konsul.
Bei Plautus heisst es: „Der Weise schafft sich sein Glück selbst“, während ein Vers von Cornelius Nepos sagt: „Der Charakter schmiedet jedes Menschen Glück“.
Das berichtigte das abhängige Volk – im Unterschied zu der aristokratischen römischen Oberschicht -, zu der „Volksweisheit“: „Jedermann ist seines Glückes Schmied, vorausgesetzt, dass ihm das Schicksal nicht Hammer und Amboss versagt hat“.
„Paul: Was haben Sie bisher gemacht?
Dunant: Ich habe meine Zeit bisher vorwiegend dem Schicksal meiner Mitmenschen gewidmet, den Schwachen und Bedürftigen –
Paul: Sozialist?
Dunant: Genfer Bürger. Ich bin Mitglied einer Almosengesellschaft.
Paul: Aktiengesellschaft wär mir lieber.
…
Paul: …intelligent?
Dunant: Ich denke.
Paul: Aus bürgerlichem Haus?
Dunant: Ja.
Paul: Etwas Geld?
Dunant: Ja, auch.
Paul: Da gibt es fünf Möglichkeiten in ihr Leben zu investieren. Erstens Sie werden Künstler. Darüber verlier ich kein Wort. Ein reines Verlustgeschäft. Zweitens Sie werfen sich in die Arme der Kirche. Eine seriöse Anlage, aber bescheidene Rendite. Drittens Sie marschieren in die Armee. Aber wozu wollen Sie General werden, wenn Sie intelligent sind. Viertens das Studium. Aber wozu Bildung, wenn Sie Geld haben. Fünftens das Geschäftsleben. Sie kommen aus einem bürgerlichen Haus. Sie sind intelligent. Sie haben Geld. Machen Sie Geschäfte.
Dunant: Das machen alle.
Paul: Eben. Das ist die Vorraussetzung. Mit sich allein können Sie kein Geschäft machen. Schauen Sie sich um. Wo Sie hinsehen Geschäfte. Auf der ganzen Welt, Tag nund Nacht, nur Geschäfte Geschäfte Geschäfte. Wer da nicht mitmacht, ist entweder dumm oder faul oder unmoralisch oder alles zusammen.
Eine Uhr schlägt zwölf. Der Börsenlärm verstummt mit dem ersten Schlag. Die Börsenhändler gehen langsam ab.
Paul zieht seine Taschenuhr und vergleicht die Zeit.: Die bürgerliche Zeit! Das ist die Zukunft, junger Mann. Der bürgerliche Tag. 24 gleichlange Stunden zu 60 gleichlangen Minuten und 60 gleichlangen Sekunden. Ein sauberes Limit. Ordnung und Fortschritt. Die Sonnenzeit ist vorbei. Zeit muß exakt sein und überall gleich. Die Fahrpläne müssen stimmen.
…
Während ich mich mit Ihnen unterhalte, mein Lieber. Was wollen Sie da mit Ihrer Almosengesellschaft. Bei so einem Geschäft bleibt auch noch etwas für die Armen übrig.
…
Eine Aktiengesellschaft gehört niemand, sie gehört dem Kapital. Aber das ist das Grandiose daran, Sie dürfen Anteil nehmen. Und ein Aktionär ist ein Mensch, der Anteil nimmt. Und das Herz all dieser Wesen schlägt hier. In der Börse, Tag und Nacht ohne Pause rund um die Erde. Hier ist der Tempel der neuen Zeit. Hier ist jeder gleich. Jeder der Aktionär des anderen. Verstanden?“
Dieter Forte, „Jean Henry Dunant oder Die Einführung der Zivilisation“.
Das Wort „Armut“ geht etymologisch auf die Wortgruppe von „Erben“ zurück, und „arm“ wurde ursprünglich im Sinne von „vereinsamt, bemitleidenswert, unglücklich“ verstanden, woran sich anschloss „barmherzig“ und „erbarmen“.
Und „Armut“ ist mit dem Suffix, der Nachsilbe gebildet, mit dem auch Einöde und Heimat gebildet sind.
„Erben“ wurde verstanden im Sinne eines verwaisten, schutzlosen Kindes. Die ursprüngliche Bedeutung von Erbe ist „Waisengut“, zu dessen Wurzel auch „schwere Arbeit“ und „arm“ gehören. Die Bedeutung von „Armut“ und „arm“ ist die von „verwaist“.
Das Wort „betteln“ schliesslich ist etymologisch verwandt mit „beten“, und beide Wörter stammen etymologisch von „bitten“.
Während in den grossen Musicalhäusern der Metropolen das Publikum z. B. der Vorführung „Les Miserables“ lauscht, basierend auf dem Roman Victor Hugos, „Die Elenden“, liegen ebendiese draussen vor der Tür, frierend, hungernd, ohne Dach über dem Kopf. Ihnen fehlen die Grundvoraussetzungen eines menschlichen – nicht nur menschenwürdigen – Daseins. So betteln immer mehr Opfer in den Städten um Almosen, und: immer mehr Erwachsene und Kinder sind auf Suppenküchen und Ausgabe von Lebensmitteln angewiesen. Verlierer werden umso fremder in unserer Gesellschaft, je ärmer sie werden. Insgesamt differenziert sich die Gesellschaft in jene, denen Stadt und Land gehört, und in jene, die als Verwaiste, Fremde in den Städten vegetieren.
Die deutsche Kultur ist historisch christlich, und der Stifter derselben, der „Menschensohn“ Jesus Christus, klärt einen Verehrer, der sich ihm anschließen will, auf, was ihn zu erwarten habe, wenn er ihm nachfolge: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel des Himmels Nester; der Sohn des Menschen dagegen hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Matthäus, 8, 20). Und so ist es für die „Mühseligen und Beladenen“ und die „Erniedrigten und Beleidigten“ geblieben, Verbannung oder Inhaftierung durch Adel und Bürgertum der Antike, des Mittelalters bis zur Neuzeit.
„… weil ihre Lügen sie irregeführt, denen schon ihre Väter gefolgt sind. Ich lasse Feuer los wider Juda, dass es Jerusalems Paläste verzehre. … weil sie den Unschuldigen um Geld verkaufen und den Armen wegen eines Paars Schuhe. Sie treten in den Staub das Haupt der Geringen und drängen die Elenden beiseite“, Prophet Amos, AT, 2,4
Das Wort betteln ist also etymologisch verwandt mit beten, und beide Wörter stammen etymologisch von bitten. Der Betende sucht ein Bündnis mit Gott (Prophet Hiob), der Bittende mit der etablierten Gesellschaft, deren Zivilisationssytem seine Lage beinhaltet und ausmacht, und in der also auch, und nur in ihr, die Erlösungsmöglichkeit liegt (bei Hiob liegt sie bei Gott).
Die christlich-demokratische Botschaft des Stifters Jesus Christus lautet: „Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem ab, der von dir borgen will!“ (Matthäus,5,42). Wobei borgen damals nicht im Sinne von leihen und zurückgeben gemeint war. Borgen bedeutet ursprünglich „auf etwas acht haben, jemanden mit Zahlung verschonen“ und stammt von dem Verb „bergen“, davon „schützender Ort“, „Herberge“, und „Herberge“, „Stall“, kommt von dem Wort „Schuppen“, wovon sich ableitet „Obdach, Unterkunft, Zuflucht, Schutz, Fürsorge“, und davon ist die Wurzel das Wort „Schuhe“.
Kunst und Armut
„Kunst und Armut gehören zusammen“
Klaus Staeck
„Also ich persönlich halt nicht viel von Revolutionen, meinte Kobler. Ich hätt zwar wirklich nichts dagegen, wenn es jedem besser ging, aber ich glaub halt, dass die revolutionären Führer keine Kaufleut sind, sie haben keinen kaufmännischen Verstand.
Das Zeitalter der Kaufleut, nickte Schmitz.
Und glauben sie nicht auch, dass wir Kaufleut noch lange nicht unsern Höhepunkt erreicht haben? fragte Kobler hastig. Der Schlaf war ihm plötzlich vergangen.
Wem erzählen sie das?! rief Schmitz und fuhr dozierend fort: Hörens her: erst wenn alle menschlichen Werte ehrlich und offen vom kaufmännischen Weltbild aus gewertet werden, dann werden die Kaufleut ihren Höhepunkt erreicht haben…“; Ödön von Horváth, „Der ewige Spiesser“.
„Kunst kann Dinge sichtbar machen“
Klaus Staeck
„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“,
Paul Klee
80 % der deutschen Künstler und Künstlerinnen leben in Armut (Bildende-Künstler, KünstlerInnen der instrumentalen Musik, der Stimme, des Tanzes, der Schauspielerei, der Schriftstellerei, Intellektuelle …).
KünstlerInnen leben mit Armut, Mangel. Auch erfolg-reiche KünstlerInnen haben Armut und Mangel teilweise erlebt, kennen gelernt, künstlerisch verarbeitet.
Im Zeitalter der Kommunikation durch die „entsetzliche Bilderflut“ (Vilém Flusser) können Bildende-Künstler dazu beitragen, durch künstlerische Bilder sichtbarer zu machen, Zeugnis abzulegen von dem, was im gesellschaftlichen Spektakel am Rande des Blickwinkels vegetiert: Armut, Hunger, Not, Angst, Gewalt, Schrecken, Fremdheit – „Das Elend der Welt“ (Pierre Bourdieu).
Das vormals romantische wie unterdrückte Ich stellt sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sich selbst gegenüber, mit der Masse des Materials der Volksphantasie der neuen Zeit: Übergang vom Adel zum Bürgertum, von der Handarbeit zur Industrialisierung, in der Gesellschaftsphilosophie, in der Psychoanalyse, in den Bildenden-Künsten, – das „Schwarze Quadrat“, sowie Kreis, Kegel und alle Formen, Hohlraum, leere Oberfläche, Dada: das Experiment Selbstauflösung.
„Alles hat vom Objekt seinen Ausgang genommen“, schreibt Jean Baudrillard. In der gegenwärtigen Gesellschaft des Spektakels jedoch wird alles zu Zeichen, die gegeneinander austauschbar sind, die Beaudrillardsche „Simulation“ von Politik, von Gesellschaften, Kultur und Kunst. Im Zeitalter der Globalisierung werden Kunst und Kommunikation immer mehr miteinander verbunden. Die Popart wurde, nach Duchamp, durch den Gross-Simulator von Ästhetik, Andy Warhol, neu inszeniert, indem er eine mystische Simulation der post-figurativen Welt als „anthropologisches Ereignis“ (Beaudrillard) schuf.
Paul Cezanne, um 1900
„Es steht schlecht. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet“,
Käthe Kollwitz, 1922
„In solchen Augenblicken, wenn ich mich mitarbeiten weiss in einer internationalen Gemeinschaft gegen den Krieg, hab ich ein warmes, durchströmendes und befriedigendes Gefühl. Freilich, reine Kunst in dem Sinne wie zum Beispiel die Schmidt-Rottluffsche ist meine nicht. Aber Kunst doch. Jeder arbeitet, wie er kann. Ich bin einverstanden damit, dass meine Kunst Zweck hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind. Viele fühlen jetzt die Verpflichtung, wirken und helfen zu wollen, aber mein Weg ist klar und eindeutig: andere gehen unklare Wege“
Otto Dix, 1963
„Das musste ich alles ganz genau erleben… Ich bin so ein Realist, wissen Sie, dass ich alles mit eignen Augen sehen muss…“
Jörg Immendorf, 1973
„In dieser propagandistischen Phase (Zeit der Proteste gegen den Vietnamkrieg) erschienen für mich elegante Überlegungen zu Stilfragen als Luxus bürgerlicher Ästheten, die sich um das Problem der Moral in der Kunst herumdrücken“
Joseph Beuys, 1983
Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität. Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kunst“
Kunst, Armut, Reichtum – und das Ende der Feindbilder
„Nachdem es keine Priester und Philosophen mehr gibt, sind die Künstler die wichtigsten Leute auf der Welt“
Gerhard Richter, 1966
„Der Geist der Zeit, der Zeitgeist, wird in erster Linie durch die Zukunftserwartungen einer Gesellschaft in einer Epoche bestimmt. Das ist die Definition, auf die ich mich jetzt hier ausrichte. Vielleicht ist der Zeitgeist überhaupt nichts anderes als die Gestalt der Zukunftserwartungen einer Zeitgenossenschaft. Zwar unterscheiden sich die konkreten Lebensformen der Menschen einer Epoche erheblich, aber in ihrer Einschätzung der Zukunft gleichen sie sich doch erstaunlicherweise wieder an. Denn was die einen nämlich als Zukunft herbeisehnen, das fürchten die anderen, und auf diesem Wege wird, trotz aller Unterschiede in den Lebensformen, diese merkwürdige Übereinstimmung in vielen Haltungen und Einstellungen erklärbar. Die Furcht vor und die Hoffnung auf die Zukunft treten nämlich immer verschwistert auf, eben als Zeitgeist, dessen Kräfte alle erfassen, weil nämlich positive und negative Einschätzungen der Erwartungen sich ja wechselseitig hervorbringen und auch bedingen.
In den Entwürfen der Künstler für die dreissiger, vierziger, fünfziger, sechziger Jahre tritt uns, von heute aus gesehen, jeweils der Zeitgeist als die eigentliche Kraft der Gestaltung, des Formwillens als Vision und Wertung, als Wunsch entgegen. Diese Entwürfe zeigen uns, welches Bild einer Zukunft die Zeitgenossen hatten, und mit diesen Zukünften, die heute ja längst vergangene Zukünfte sind, den Hoffnungen und Befürchtungen konfrontiert zu sein, teilt sich uns in den Entwürfen als kollektive Kraft der Epoche, als deren Zeitgeist mit. Darin aber, so sagt man, liegt unter anderem auch ein wesentlicher Aspekt des künstlerischen Wertes solcher Arbeiten. Sie lassen uns nämlich die unsichtbaren und die unfassbaren Antriebskräfte erahnen, die die jeweiligen Zeitgenossen beherrschten“
Bazon Brock, 1989
In Platons Dialog „Symposion“ in das „Gastmal“ wird erzählt, dass sich die Göttin der Armut und Erfinderin der Künste und des gewerblichen Mittelstandes, Penia, mit dem Gott des Reichtums und Überflusses, Poros, paarte, als dieser betrunken schlief, und sie Eros gebar, den Gott der Liebe und der philosophischen Kraft.
„Der Reichtum“, griechisch Plutos, ist die letzte Komödie des griechischen Dichters Aristophanes. Der anständige Chremylos („Der kleine Räusperer“) muss in Armut leben, während zahlreiche Verbrecher ein immer größeres Vermögen anhäufen. Er wendet sich darum an das Orakel von Delphi, um zu erfahren, ob sein Sohn auch vom Weg der Tugend abkommen soll, um später ein besseres Leben als sein Vater führen zu können. Von Apollon erhält er den Rat, dem ersten Menschen, der ihm beim Verlassen des Tempels über den Weg läuft, zu folgen und ihn in seine Herberge einzuladen. Er trifft auf einen alten, blinden Mann: Plutos, der Gott des Reichtums. Weil dieser blind ist, kann er nicht sehen, wie ungerecht er seine Gaben verteilt. Um das zu ändern, lässt ihn Chremylos im Tempel des Asklepios heilen, worauf sich die Besitzverhältnisse wunschgemäss ändern. Penia, Göttin der Armut und damit Gegenspielerin, gelingt es nicht, die Bürger mit einem Vortrag über die moralische Bedeutung der Armut zu überzeugen – sie wird verjagt, Plutos dagegen gefeiert und mit einem Altar im Parthenon geehrt.
Michel Treguer: „Am Anfang unseres Gesprächs sagten Sie, es würde in den mächstigsten Ländern nur einiger bedeutender Menschen guten Willens bedürfen, um `die Menschheit wieder auf die richtige Bahn zu lenken´, um die Reichen dazu zu bewegen, die Armen zu ernähren, etc. Die Schwierigkeit besteht darin, den Mimetismus umzudrehen, ihn in den Dienst des Guten und nicht weiterhin in den des Bösen zu stellen: mehrere Menschen, alle, müssten sich gleichzeitig ändern, gleichzeitig gut und barmherzig werden …
René Girard: Es gäbe nichts Leichteres, wenn wir nur wollten: wir wollen aber nicht. Die Menschen mit ihrem konstanten Paradox, ihrer Unschuld und ihrer Schuld zu verstehen, läuft darauf hinaus, zu begreifen, dass wir alle für diesen Zustand verantwortlich sind, da wir, im Unterschied zu Christus, nicht daran sterben“.
René Girard in „Wenn all das beginnt …“, ein Gespräch mit Michel Treguer, 1994
Wir wissen alles, – über Armut und Reichtum in der Welt.
Wir wollen aber nicht, – diese abschaffen.
Was ist Wissen?: etymologisch stammt der Begriff von und bedeutet: „erblicken, sehen, gesehen haben, ich habe gesehen, erkennen, ich weiss, bewusst, Wissen, bis zu weise, Gestalt, Urbild und Gewissen.
Der Begriff Gewissen stammt von griechisch „syneidêsis“, ins lateinische Übertragen „conscientia“, und bedeutet ein verstärktes Wissen und Bewusstsein, nämlich Mit-Wissen.
Die antiken Griechen lehrten, dass es für jedes sittlich schlechte Verhalten gegenüber Göttern und Menschen einen „Zeugen“, den inneren Mitwisser gäbe. Und Sinn dieses Wissens, Bewusstseins, Mitwissens ist Verantwortung.
Verantwortung übernehmen seit Anbeginn der Geschichte der Menschheit mit-wissende Mit-Menschen. Einzelne haben seit den frühen Zeiten ihren Mitmenschen geholfen, Arme, Bettler mit Nahrung, Kleidung, Unterkunft, später mit Geld.
Und es haben sich private Gruppen gebildet, seit dem Mittelalter christliche Gruppen, die Hilfe für arme Menschen organisierten, Armenspeisungen, Suppenküchen, öffentliche Kleiderkammern, Notunterkünfte.
Und heute leistet die Lebensmittelindustrie Unterstützung mit Lebensmittel, die aus dem Handel genommen werden, und Industrie und Mittelstandsfirmen sponsern Transportfahrzeuge, Materialien, Räumlichkeiten, etc. sowie Geld und Dienstleister Werbung, Steuerberatung, Rechtsberatung, etc.
Solange nicht Politik die Verhältnisse ändert und Reiche Arme ernähren, ist diese Art Hilfe notwendig.
Was wird verdrängt? Nicht nur das Schlechte wird verdrängt, wie gemeinhin angenommen wird, sondern gerade das Gute im einzelnen Menschen wird verdrängt, weil befürchtet wird, das individuelle Gute passe nicht zum Gesell-schaftscharakter des Kampfs ums Dasein mit Ellenbogen.
DIE ZEIT, 4.5.2005, Günter Grass:
„Bei gleichzeitigem Gejammer über drohende Vergreisung und papageienhaft wiederholten Forderungen, mehr für Jugend und Bildung zu tun, leistet sich die Bundesrepublik – das immer noch reiche Land – einen Zuwachs von beschämendem Ausmass, `Kinderarmut´ genannt … die Zukunft von mehr als einer Million Kindern, die in verarmten Familien aufwachsen, bleibt weiterhin verhängt. Wer auf diesen Missstand und auf weitere ins soziale Abseits gedrängte Menschen hinweist, wird von alerten Jungjournalisten günstigstenfalls als `Sozialromantiker´ verspottet, in der Regel jedoch als `Gutmensch´ diffamiert. Fragen nach den Gründen für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich werden als `Neiddebatte´ abgetan. Das Verlangen nach Gerechtigkeit wird als Utopie verlacht. Der Begriff Solidarität findet sich nur noch in der Rubrik Fremdwörter“.
Erich Fromm schreibt:
„Nehmen Sie ein ganz einfaches Beispiel. Ein Kaufmann, selbständig, wohl- habend, versorgt seinen eigenen Laden noch im Alter. Es kommt ein junges Mädchen in den Laden, das zum ersten Ball geht. Es sieht ein Kleid und ist ent- zückt. Auch der Kaufmann sieht: Das ist das richtige Kleid für das Mädchen. Das Kleid kostet 150 Franken, und sie hat nur 120. Da hat der Kaufmann den Impuls zu sagen: „Also, liebes Fräulein, nehmen Sie’s für 120.“ Er kann sich’s leisten, es macht ihm Freude, Freude zu machen. Er wird es aber vielleicht nicht tun, weil er glaubt, dann ist er dumm. Dann handelt er kindisch. So ist doch kein erwachsener Mann, das ist ja romantisch.
Es wäre echte Liebe im ganz persönlichen Sinne, die ihn dazu motivieren würde, diese 30 Franken Profit nicht zu machen, dafür aber die Freude zu haben, diesem Mädchen ihren Lieblingswunsch zu erfüllen. Aber das muss er unterdrücken, weil die Gesellschaft sagt, ein rationaler Mensch handelt nicht so. Und dann hat er vielleicht in der Nacht einen Traum und er träumt, dass er das Mädchen mit dem Auto überfahren hat, und es stirbt. Der Traum vergrößert hier natürlich ungeheuer, aber er zeigt ein tiefes Schuldgefühl, weil er diesem Mädchen gegenüber eigentlich grausam gewesen ist. Er hat nicht gewagt, die kleine Unkonventionalität zu begehen, nämlich das Kleid ohne Profit wegzugeben.
Eine Ursache der Schuldgefühle, mit denen wir uns herumtragen, liegt darin, dass wir nicht nur das Schlechte, sondern auch das Beste in uns verdrängen, weil es nicht in die gesellschaftlich akzeptablen Normen fällt. Wir leben in einer Gesellschaft, die auf Erfolg und Profit aus ist, und nicht in einer, die auf Liebe aufgebaut ist. Daher schließt sich der, der im Sinne der Liebe handelt, vom ge- sellschaftlichen Denken selbst aus; man wird Outsider. Der Kaufmann in unserem Beispiel kann das kaum seiner Frau erzählen, denn die würde ihm sagen: „Du Dummkopf“. Noch weniger kann er es seinen Kollegen sagen; er würde seinen Kredit verlieren, weil er halb geistesschwach ist.
Es wird nun nicht nur das Gute in uns verdrängt, sondern – wie mir scheint – zum großen Teil auch die Wahrheit. Wir leben in einer Weit, die einem Kehrichthaufen von Illusionen und Schwindet gleicht. … Wir verdrängen nicht so sehr das Schlechte in uns, sondern weigern uns, die Wahrheit zu sehen, die wir eigentlich alle kennen. Denn ich glaube, im Grunde genommen wissen wir alles.
Dafür gibt es viele Anzeichen, die das beweisen. Wenn man einem Menschen die Wahrheit auf den Kopf zusagt, dann fällt es ihm sehr schwer, sie zu verleugnen. Gewöhnlich ist die Wahrheit mit viel Bitterkeit, Hass und Entstellungen verknüpft; sagen Sie aber einem Menschen in freundlicher Weise die Wahrheit über
ihn … dann allerdings wird der Mensch gewöhnlich gar nicht ärgerlich, sondern erlebt einen Schock, einen sehr positiven Schock.
Aber leider ist das nur in Ausnahmefällen möglich, denn wenn die Menschen die Wahrheit sehen würden, müssten sie anders handeln, und wenn sie anders handein würden, dann könnten sie nicht so bleiben wie sie sind, und dann gerieten sie in einen Konflikt mit der Gesellschaft, mit ihrem Erfolgsstreben, mit vielen, vielen Dingen, die ihnen heilig sind. Und deshalb ist es fast zwangsläufig, dass man zwar die Wahrheit weiß, aber gleichzeitig dieses Wissen von der Wahrheit verdrängt.
Ich bin im Laufe von vielen Jahrzehnten zu der festen Oberzeugung gekommen, dass wir zwar viel Schlimmes in uns verdrängen – aber wer will entscheiden, was wirklich schlimm ist. Was wir aber am meisten verdrängen, das ist die Wahrheit, weil die für unsere ganze Lebensweise das Gefährlichste ist.“
Erich Fromm, „Das Undenkbare, das Unsagbare, das Unaussprechliche“,1978
„Das Elend der Welt“ – DeutschLandundLeuteBilder hofft, dem Mimetismus und dem Widerstand gegen das Reale ein wenig ins Handwerk zu puschen und zum Wachsen des Wollen mit beitragen zu können, – mit der kommunikativen Kraft der Bildenden-Kunst durch Künstler und Künstlerinnen.